Obwohl es so viel zu sehen gäbe, schaust du nur auf deine Schuhe, diese alten, gatschigen Dinger, die einmal meinem Vater gehört haben. Du siehst nicht die letzten tanzenden Wipfel, nicht das junge Grün, die Triebe, die sich zwischen trockenem Reisig und Fichtenzapfen nach oben ans Licht schieben. Du schaust auf deine Schuhe, weil du die Blicke der Tiere nicht aushältst, es nicht erträgst, dass diese Hundertschaft an Rehen uns durch den doppelten Maschendrahtzaun beobachtet, seit wir aus der verkraterten Monokultur, an deren Rand man sie auf eine Wiese verfrachtet hat, herausgestolpert sind. Hinter uns schief gesägte Baumstümpfe, wie verfaulte Zahnstummel stehen sie da, und vor uns unzählige Körper mit glänzenden Nüstern, eng beisammen. Alle Rehe drängen sich unter die wenigen Bäume, das bisschen Geborgenheit, das ihnen jene, die den Zaun gebaut haben, zugestehen, sie starren uns an und rühren sich keinen Millimeter. „Entrisch" würdest du sagen, wenn du endlich den Blick heben, dich aufdie Situation einlassen würdest. Auch mein gemurmeltes „Wildtiergehege, allein das Wort ist ein einziger Widerspruch" ignorierst du. Ich würde ja lauter sprechen, schreien, den Wald und diese Ungerechtigkeit niederschreien, aber auf meine Art macht mich der Anblick genaüso stumm wie dich.
Ich habe es heute in der Regionalzeitung gelesen, bei Getreidekaffee und dem allerletzten Kiwimarmeladenbrot. Da stand es ganz groß, wie ein Erfolg, etwas, das es zu feiern gilt: Die Gemeinde habe, unter Mithilfe zahlreicher Freiwilliger, ernst gemacht: Gestern in der Dämmerung alle Rehe aus dem Bezirk in ein Wildtiergehege zusammengetrieben, zu ihrem eigenen Schutz, wegen der vielen Autounfälle in den letzten Wochen. „Vorübergehend, natürlich nur vorübergehend", wurde die Bürgermeisterin zitiert, „nur bis die Sache mit dem
Wald geklärt ist."
Der Wald. Was der Borkenkäfer stehen lässt, der Eschenpilz verschont, das holen sich seit ein paar Wochen die Menschen. Schleichend hat es angefangen, sodass nicht einmal die, denen die Wälder gehören, es gleich bemerkt haben. Da hat mal hier mal da, bei dem einen oder anderen Holzstoß im Wald ein Festmeter gefehlt. Als der Baumarkt und der Großhändler immer häufiger statt Heizmaterial Ausflüchte lieferten (die Probleme am Weltmarkt, der Käfer, die Waldbrände und so weiter) nachts plötzlich das Brüllen der Motorsägen aus dem Holz, bis ins Schlafzimmer konnten wir es hören. Wir lenkten uns mit Fantasiegeschichten über dringende Forstarbeiten ab, obwohl du die Wahrheit längst kanntest. Also kannte auch ich sie. Damals haben wir uns noch alles erzählt.
Mit rinnenden Nasen, fiebrigen Augen, ewig eiskalten Fingern und großer Sorge über die ganz Kleinen und die Alten kommen die Leute aus dem Ort täglich zu dir in die Praxis. Du verschreibst Grippemedizin, Hühnersuppe und warme Fußbäder, rätst, die Kinder nachts wieder ins Elternbett zu holen, das zu teilen, was an Wärme noch da ist, aber du weißt schon lange, was dieses Dorf, was dieses Land braucht, ist Holz.
Wir ignorierten den Lärm und die Kälte, nicht nur In unserem Haus, sondern auch in den Blicken, vor allem in denen der Bauern, der Waldbesitzer, der Forstarbeitenden. Wie sie nach ein paar Tagen der Holzwilderei, so nannten wir es mangels eines besseren Wortes dafür, ihre knallorangene Schutzkleidung gegen Jacken und Hosen in dunkelgrün tauschten, sich versteckten, ausharrten, ihren Wald verteidigten, zumindest tagsüber. Doch nachts, so hieß es im Dorfladen, sei alles anders. Man müsse nur die Richtigen kennen, fragen, ihnen ein Angebot machen, erzählte die Bäckerin augenzwinkernd auch jenen, die es nicht hören wollten. Wir nickten, packten unsere Einkäufe ein und hielten uns raus.
Zum Schlafen nahmen wir eine zweite, eine dritte Decke und tagsüber saßen wir nur zum Essen still. Wir waren im Bett oder arbeiteten, denn Ruhen kühlt aus, wir bewegten uns also und lenkten uns ab, sammelten Vogelmiere und Hagebutten, räumten den Keller mit bunten Gläsern voll. Wir konnten so lange so tun, als ginge uns das alles nichts an, bis auch der Stoß vor unserem Küchenfenster keiner mehr war, und ich dich fragen musste, ganz heiß war mir auf einmal, ob du jemanden kennst, der weiß, wie das jetzt überhaupt geht mit dem Holz, was wir tun müssen. Eines Abends hast du gesagt, dass im Wirtshaus ein Fußballspiel von früher auf
Großleinwand gezeigt wird. Ein bisschen alte Normalität, Glühwein gibt es auch, aber als du heimgekommen bist, hast du nach Wald und nicht nach Wein gerochen. Du hattest also jemanden gefunden, der bereit war, der neuen Hausärztin und ihrer Frau zu helfen. Ich habe dich nicht gefragt, nie fragen können, was du damr gegeben hast: Geld, Medikamente, vielleicht auch etwas ganz anderes, etwas, dessen Wert sich nicht beziffern lässt. Vielleicht schaust du deshalb jetzt auf deine Schuhe und noch immer nicht auf die Tiere, derentwegen wir doch hier sind. Weil ich es mit eigenen Augen sehen wollte.
Ich könnte dich beruhigen, dir erzählen, dass es mir auch so geht, jedes Mal, wenn ich ein Holzscheit in den Ofen lege, den meine Eltern wie alle vor ein paar Jahren gekauft haben, um die Gasheizung zu ersetzen. Wie sich alles in mir zusammenzieht, weil ich denke: mein Wald, der Wald meiner Kindheit. Weil ich mich frage, wohin das führen wird. Was kommt nach den Rehen? Dass die Rehe panisch in die Autos gerannt sind, kann man ihnen das verdenken, es ist doch vor allem ihr Wald gewesen.
Du schaust auf den Boden und hinter meinen Augen drückt es- Vor dem Staat und unserem engsten Freundeskreis haben wir vor Kurzem erst geschworen, ab jetzt machen wir im Leben alles gemeinsam. Niemals hätten wir uns dort im Rathaussaal der Stadt gedacht, dass sich das so bald als Unwahrheit entpuppen würde, und doch: Jetzt, hier, vor dem neu gebauten Wildtiergehege stehen wir nebeneinander und schämen uns ganz allein.
Am Heimweg kommt uns eine Mutter mit Kind entgegen, beide tragen Stoffbeutel voller Zweige, sie schauen zu Boden und grüßen uns nicht. Du und ich, wir verabschieden uns voneinander auf der Straße vor unserem Haus, und plötzlich tust du mir leid. Es tut mir leid, dass du so sprachlos, so eingefroren bist, und ich umarme dich, küsse deine Haare, den Nacken und du wirst ein bisschen weicher, kannst mir sogar in die Augen schauen, als du dich am Weg zur Praxis noch einmal zu mir umdrehst.
Es hat ein paar Monate gedauert, bis wir auf der Straße, in der Öffentlichkeit, wir sein konnten, bis sich das Dorf daran gewöhnt hatte. Dass ich mit einer Frau ankam und wir zusammen in das alte Haus meiner Eltern zogen. Du trägst die Haare, die schweren Schuhe und die gewalkte Jacke wie einer von ihnen, hast raue Hände und trinkst gern, ich arbeite an den Fresken in der Kirche, das hat geholfen. So richtig akzeptieren sie uns aber erst, seitdem du die Praxis hast. Eine Ärztin hat dem Dorf schon lange gefehlt. Es hat sich herumgesprochen, wie du den Dekubitus der alten Gßmsjäger behandelt hast, dass es dir nicht gegraust hat vor diesem Menschen mit dem Loch im Rücken. Dass du auch diejenigen ohne Krankenversicherung untersuchst und als Bezahlung Selbstgebranntes und Selbstgebackenes annimmst, einmal sogar einen frisch geschossenen Fasan. Wie wir ihn heimlich hinter dem Haus vergraben haben, beide zu feige, ihn zu rupfen, auszuweiden, zu panisch wegen Salmonellen oder irgendwelchen Würmern und Viren, und irgendwie auch, weil er uns leidgetan hat, wir ihm sein schillerndes Kleid, dunkelblau, golden und kupferfarben glänzend, nicht ausreißen konnten. Ein hirnloser Versuch, sich dieser neuen Wildheit der Welt zu verweigern. Eine Verschwendung, das wissen wir jetzt.
Auf dem Weg zur Kirche hole ich Eier von der Nachbarin. Sie fragt mich, ob wir ein Gewehr kaufen wollen, sie habe einen vollen Waffenschrank geerbt. Der Schwiegervater habe sich aufgehängt, wie soll man das alles noch aushalten, und ich nicke und schüttle gleich darauf den Kopf. Den Zehner für die Handvoll Eier nimmt sie nur zögerlich.
„Mir wäre ab jetzt lieber, wir tauschen."
Ich zucke mit den Schultern. „Gegen was soll ich tauschen?"
„Überleg dir was", sagt sie und steckt das Geld in ihre Kitteltasche.
Ich verstecke die Eier unter den Polstern auf der Veranda und gehe zum See, spiegelglatt ist er, dunkelgrau und tief. Zwischen den Holzdächern mit ihren spitzen Giebeln und Wetterhähnen steht der Kirchturm, ein steinemer Klotz, aber ich will noch nicht arbeiten. Alle Umwege, die das Dorf mir anbietet, gehe ich. Über die Seepromenade, vorbei an der ehemaligen Anlegestelle der Ausflugsschiffe, der alten Schaumühle und dem Haus, das unter Denkmalschutz steht, weil da vor 200 Jahren einer ein berühmtes Gedicht geschrieben hat. Alles ist grau, irgendwo kreischt schon wieder eine Kreissäge, und doch spüre ich ihn, den Charme von früher. Als meine Eltern mir erklärt haben, es sei etwas Gutes, die vielen Menschen, die täglich aus unzähligen Bussen und Autos strömen. Wie sie sich vor unserer Veranda fotografieren ließen, zarte Frauen mit weißer Haut, schwarzen Haaren und Sonnenschirmen, und mein Vater stolz sagte, bald werde ganz Japan seine Schnitzkunst und unseren Spalierpfirsich kennen. Die Bergspitzen am anderen Ufer und wie sie sich im See spiegelten. Diesem See, einem der tiefsten der Region, sagenumwoben natürlich. Die Berge voller Schätze aus Urzeiten, hieß es. Unser Dorf hatte alles: ein Skigebiet im Winter, Schaufischer und Trachtenumzüge, blumengeschmückte Kinder und Kühe und Boote im Sommer. Wegen der Tradition sagten die einen, ftir den Tourismus, die anderen.
Mit den Jahren schrumpfte unser Gletscher, auch der Neuschnee blieb aus. Die Gemeinde investierte in Schneekanonen und wir Einheimischen wendeten beschämt die Blicke von den grellweißen Kunststoffbahnen ab, die sich nun wie überdimensionierte Spinnennetze über unsere immergrünen Berge spannten. Unseren Ort als Winterparadies am See, das kannten Besuchende bald nur noch von den ausgeblichenen Postkarten im Schaufenster der Trafik.
Nach dem Schnee erwischte es die Saiblinge. Die allgegenwärtige Hitze, eine Krankheit oder ein Umweltgift, wir wissen nicht, was sie so plötzlich und in solchen Mengen umbrachte. Aber mir fällt jetzt ein, warum mich dieses Auf-die-SchuheSchauen so nervt: weil ich es kenne. Und zwar von dem Tag, an dem sie die Kadaver entsorgten. Als die vom Umweltamt wie Außerirdische in Schutzkleidung und mit Atemmasken anrückten und anfingen, Hunderte von blassen Fischen, die mit wunden Schuppen tot am Badestrand lagen, erst in Scheibtruhen zu schaufeln und dann in die Lastwagen der Tierkörperverwertung zu verladen. Wie das ganze Dorf schweigend dastand, zusah und nur ein paar Alte stumme Tränen vergossen. Ich sah hin und weinte auch, und vielleicht weinte ich deswegen, weil ich es damals schon nicht ertragen konnte, dieses Sich-aus-der-Verantwortung-Ziehen. Wie das ganze Dorf kollektiv zu Boden starrte, als ginge uns das nichts an. So wie es heute mit dem Wald und den Rehen ist. Und du machst mit. Du gehörst schon dazu, bist längst eine von ihnen.
Als der Schnee und die Fische verschwanden, der Blick auf den Hohen Götz nun befleckt war, und die meisten von uns sich weigerten, länger im See zu baden, legte sich etwas Dunkles über unseren Ort. Ein zarter Schleier, der nichts verbarg, sondern etwas zeigte, der die Idylle als etwas Konstruiertes entlarvte. Auch die Gäste spiirten es. Die Zeit der Sommerfrische und des Skiurlaubs war für sie vorbei, und auch mich zog es weg, ich verließ das Dorf verwirrt und ging nach Wien. Ich studierte, lernte alles über Farben, Pigmente, Verputze, Epochen. Als ich mich Rir ein Spezialgebiet entscheiden musste, wandte ich mich der Restaurierung von Wandmalereien und Architekturoberflächen zu, restaurierte Fresken in Östeneich und Italien. Ein Heiliger Christopherus nach dem anderen, und jeden Tag ging die Welt ein bisschen mehr unter. Die schlimmsten Katastrophen passierten weit weg, das redeten sich alle ein. Selbst als Kolleginnen und ich aus Venedig notevakuiert werden mussten, scherzten wir noch, aqua alta habe es schließlich immer gegeben. „Jahrtausenddürre" wurde zum Unwort des Jahres gewählt und meine pragmatische Mutter pflanzte den Kiwibaum, der gleich im ersten Jahr kiloweise Früchte abwarf. Ich lernte dich kennen und obwohl wir uns monatelang versicherten, in diesen unsicheren Zeiten nichts Ernstes zu suchen und zu wollen, wurde es doch so ernst, du warst die Erste, der ich ins Telefon stammelte, dass bei meinem Vater Demenz diagnostiziert wurde. Meine Mutter kümmerte sich, verzweifelte, hatte einen Schlaganfall, und gerade als ich im Krankenhaus zu dir sagte, während ich ihr sanft über die Hand strich, dass sie das mit Absicht getan hatte, dass es ihr Ausweg war, da klingelte mein Handy und die Nachbarin schrie, der Vater säße auf der Bank vorm Haus mit Schaum vorm Mund.
Am Friedhof weist jetzt ein Schild darauf hin, beim Blumengießen Wasser zu sparen und rät zu Grabschmuck aus Seide oder Plastik, aber dagegen wehrt sich das Dorf. Die Holzbank an der Friedhofsmauer ist weg, ebenso das geschnitzte Kreuz auf dem Grab in der Ecke. Ich zupfe an den vertrockneten Chrysanthemen herum, schaue noch ein letztes Mal auf den See. Ein Jahr sind die Elternjetzt tot. Seit einem halben Jahr bin ich wieder da, arbeite direkt neben ihrem Grab und ertappe mich bei den ewig gleichen Gedanken: Wie sie so friedlich nebeneinander liegen können. Ob es ein danach gibt, und ob er ihr dort den Schlaganfall verziehen hat und sie ihm das Rohrreinigertrinken.
Ich schließe die Kirche auf. Der Pfarrer hat das Gestühl an einen sicheren Ort bringen lassen, die Bänke sind hundert Jahre alt, sagt er. Seitdem komme das Dorf am Sonntag mit den Campingsesseln. Es ist egal, mein Gerüst sei ohnehin wichtiger, wir würden groß feiern, mit Bänken und Brimborium, wenn ich fertig bin.
Letzten Sommer, das erste Erdbeben in Österreich, das alle spürten. Ein Ereignis, aber weit nicht so aufregend wie das, was es hier freilegte: Spuren eines alten Deckenfreskos unter einer neuzeitlichem Putzschicht. Das Angebot stimmte, die Gelegenheit war günstig und du sofort dabei. Das Haus der Eltern stand schon ein paar Monate leer, ihre Sachen staubten ein, weil ich es nie schaffte auszumisten, mich nicht entscheiden konnte, wohin damit. Alles war plötzlich wichtig, unersetzlich, ein Puzzleteil der Erinnerung. Mit unserem Umzug konnte das Haus so bleiben, wie es war, zumindest ein bisschen.
Auf dem Altar stehen Papas alter Gaskocher und unser Campinggeschirr. Ich koche Wasser, gieße mir Lindenblütentee auf und bereite die Wärmekissen für meine Taschen und Schuhe vor. Jedes Geräusch hallt von den Wänden der Kirche wider und ich denke, das gehört sich nicht, meine ganzen profanen Handlungen, wie ich jetzt die Gummistiefel ausziehe, die kleinen, warmen Plastikbeutel in sie hineinstopfe und die Schuhe, mich am Altar festhaltend, wieder anziehe. Sogar in der Kirche ist jetzt alles anders, aber sie scheint daran festzuhalten, dass es wieder gut wird, die Welt sich wieder fängt. Dass es einen Zeitpunkt in der Zukunft geben wird, an dem das, was ich freilege und restauriere, die verlorenen Schäfchen zurück in ihren Schutz treiben kann. Sie, oder zumindest den Tourismus.
Die Kirche ist mir suspekt, aber diese Kirche mag ich. Wir haben es den Eltern hier noch ein letztes Mal fein gemacht. Die Blumen aus dem Garten auf den Särgen, drei Runden Rosenkranz, die singenden Volksschulkinder, dann das Essen. Eine schöne Leich wäre es geblieben, hätte nicht einer im Wirtshaus den Fernseher aufgedreht. Wenn wir die Rauchwolken nicht gesehen hätten. Wie es brannte, überall so brannte, wie es noch nie jemand erlebt hatte, so brannte, sogar die Nachrichtensprecherin weinte. Es brannte in Rumänien, im Schwarzwald, in Italien, in Schweden. Der Nationalpark im Nachbarbundesland ein Flammenmeer und plötzlich hörten wir die Löschhubschrauber, sahen durch die Gasthausfenster, wie sie mit großen, knallroten Kübeln Wasser aus unserem See schöpften und wegflogen, wieder und immer wieder. Wir kauten und tranken leise, bedächtig, während es brannte, und neben mir saß die Nachbarin mit ihrem Kind, das ständig seine Mama nach dem Regen fragte, wissen wollte, wann er denn endlich wieder käme, so lange, bis einer der Alten mit der Faust auf den Tisch schlug, fest, sein Bier schwappte über.
Hinter dem Altar hängt ein überlebensgroßer, hölzerner Jesus am Kreuz. Brustmuskeln, Unterarme, Waden, der ganze Körper schmerzvoll angespannt für alle Ewigkeit, nur der Kopf liegt auf der Schulter, resigniert. „Hättest du dir alles auch nicht so vorgestellt, oder?", sage ich zu ihm, steige aufs Gerüst und drehe das Baustellenradio auf.
„Wie war dein Tag?" fragst du mich Stunden später, als wir uns schon minutenlang über die Brennnesselsuppe hinweg angeschwiegen haben, und ich hebe den Blick.
„Ich habe Blattgoldreste an den Putten am Fries in der Vierung gefunden. Der Pfarrer hat schon um eine Budgeterhöhung angesucht, damit wir das restaurieren können", sage ich. Du wirfst den Löffel in deinen leeren Teller, schiebst ihn von dir weg und lachst laut. Bitter, giftig, ein Lachen, das ich so von dir nicht kenne.
„Was ist da so lustig?" frage ich.
Du stehst auf und gehst zum Küchenschrank, nimmst die Flasche heraus und drehst dich um.
„Allen geht das Geld aus. Es gibt kaum noch Medikamente. Als nächstes wollen sie den Strom rationieren, heißt es. Fleisch, Holz, alles wird unleistbar teuer und du sitzt in deinem heiligen Türmchen und spielst mit Gold herum!"
„Herumspielen würde ich das jetzt nicht nennen", sage ich und stehe ebenfalls auf. Du schenkst dir einen Schnaps ein, trinkst und murmelst: „Ist das Nächstenliebe, oder was?" Das „Hey!" kommt mir zu laut von den Lippen und vielleicht nehme ich dir auch das Glas zu grob aus der Hand. „Du weißt, ich mag es nicht, wenn du säufst", sage ich dir ins Gesicht. Deine Augen glänzen. Du hast die Flasche noch in der Hand, machst einen Schritt auf mich zu und knallst sie auf den Esstisch, das Geschirr scheppert und in mir zittert etwas. „Und ich, ich mag das alles hier nicht. Alles ist scheiße!" schreist du und polterst aus der Küche.
Die Zeit friert ein. Oder dehnt sie sich aus? Plötzlich ist da ein Loch im Raum, im Gefüge, in mir, und ich stehe einfach nur da und starre auf die Küchenzeile, als wäre irgendwo zwischen dreckigem Geschirr, Spülmittel und getrockneten Kräutern die Antwort auf die Frage versteckt, warum alles so kaputt ist. Dann ist es vorbei. Ich höre die Uhr im Vorzimmer wieder ticken, einen Wasserhahn tropfen und dich, wie du draußen Holz hackst. Ich gieße einen Schluck Schnaps in meinen Tee und den Rest der Flasche in die Abwasch, öffne das Fenster und sehe dir zu, wie du mein altes Kinderbett kleinschlägst.
Dir rinnt es von den Schläfen, deine Haare sind nassgeschwitzt und du keuchst bei jedem Mal Ausholen, ich sehe, wie deine Kraft nachlässt. Wie du dich weiterquälst, hackst und hackst und hackst.
„Hast du gewusst", keuchst du zwischen den Schlägen, „Ärztinnen haben ein um 150 Prozent erhöhtes Suizidrisiko."
,Red doch sowas nicht", sage ich und schließe sofort die Fensterläden.
Das Bett ist klamm und ich warte lange, bis du auch kommst. Du fragst nicht, ob ich noch munter bin, und ich tue auch nicht so, als ob ich schlafe. Als du dich wegdrehst, hat es etwas Demonstratives. Dass ich deinen Namen in die Dunkelheit flüstere, ignorierst du, also schwebt er dort wie ein Geist aus angenehmeren Zeiten.
Die Tage gehen dahin und wir uns aus dem Weg. Das Blattgold wird geliefert, der Pfarrer sperrt es in den Safe. Du kommst immer später nach Hause. Am Ende der Straße zersägt und verheizt einer seine Veranda und die Nachbarin und ich, wir pflücken Hallimasch auf einem verlassenen Grundstück an der Seepromenade. Sie sagt, ihr Mann mache sich Sorgen um dich, die Ärztin so viel im Wirtshaus, die Leute reden. „Sollen sie reden und selbst weniger saufen", sage ich. Die Nachbarin nickt. Warum sie ihre Hühner jetzt auf dem Dachboden hält, will ich wissen. „Diebe. Gesindel, elendiges", sagt sie und spuckt auf den Boden. Ob ich noch in den Wald will, wegen der Baumschwämme dort? Auf keinen Fall.
Eines Nachts weinst du im Schlaf und endlich halte ich dich wieder fest. Du lässt dich streicheln und später küssen. Du legst mich auf den Bauch und dich auf mich, erinnerst dich an all die richtigen Stellen. Unsere Körper sind klebrig, warm und wir uns ganz nah. Für einen Moment fühlt es sich an, als könnte alles gut werden. Die Sonne geht auf, wir liegen noch immer eng zusammen, die Meisen unter dem Dach machen einen Zirkus und als ich in die Arbeit komme, fluten die Glasfenster die Kirche mit Regenbögen.
Ich liege auf dem Rücken, direkt unter dem Gewölbe, summe zum Radio und wische vorsichtig Staub und Schmutz vom Mantelsaum der heiligen Katharina, als es draußen knallt. Mit dem Pinsel in der Hand erstarre ich. Wieder knallt es, der Lärm kommt vom Wasser. Ich richte mich auf, schaue durch ein Fenster im Obergaden und da sehe ich es: Auf der Badewiese am See steht einer und ballert auf die Stockenten und Schwäne am Ufer. Mir steht der Schweiß im Nacken, meine Handflächen sind feucht. Als ich das Gerüst hinunterklettere, rutsche ich fast ab.
Im Spiegel am Klo in der Sakristei sehe ich die roten Flecken auf meinen Wangen. Ich wasche mein Gesicht und meine Hände, wieder und immer wieder, bis meine Haut pocht und meine Finger Eiszapfen sind.
Als ich die Tür ins Seitenschiff öffne, steht er in der Vorhalle. Einer der Waldarbeiter. Das Gewehr ans Weihwasserbecken gelehnt, taucht er seine Finger ein, senkt den Blick und macht das Kreuzzeichen. Der Raum trägt sein Flüstern zu mir: „Imnamendesvatersund-dessohnesunddesheiligengeistesamen." In seiner Linken die Vögel, ganz schlaff. Eine Ente, eine Krähe, etwas Graues. Blut tropft auf den Boden. Ich räuspere mich und trete vor den Altar. Wir schauen uns lange an, dann hebt er die toten Vögel hoch.
„Meine Frau hat vorgestern entbunden", sagt er.
Ich schlucke. „Herzlichen Glückwunsch."
Er nickt mir zu, packt die Waffe und klemmt sie unter seine Achsel, quietschend fällt die Kirchentür ins Schloss. Ich tauche ein benutztes Taschentuch ins Weihwasserbecken und wische die Blutstropfen vom Boden. Irgendwo auf dem Friedhof gurren die Ringeltauben, als wäre nichts geschehen, und unter dem Dach berichtet ein Nachrichtensprecher von Hamsterkäufen und Massenschlägereien in der Bezirkshauptstadt.
Irgendwie geht der Tag zu Ende, ich mache uns Grieskoch mit Hagebuttengelee, wir reden nichts und gehen früh ins Bett. Wir liegen weit auseinander, in diesem Bett hätte noch jemand Platz, da schläft etwas Riesiges, Unausgesprochenes im Zwischenraum. Das ist er also, der Unterschied zwischen Müdigkeit und Erschöpfung, denke ich und meine Augen fallen zu.
Ich wache auf, weil du schreist, als hättest du Schmerzen. Du bist irgendwo unten, und hörst gar nicht auf. Draußen dämmert es und ich finde meine Schlapfen nicht, die Nachttischlampe will nicht brennen, ich ziehe an der Schnur, immer fester, bis sie abreißt. Im Erdgeschoß poltert es, als würdest du die Möbel umstellen, nein, als würdest du sie zerschlagen. Dann heulst du, laut, langgezogen, gar nicht wie ein Mensch, und als ich auf Zehenspitzen die Stiegen hinunterschleiche, fürchte ich mich vor dir. Der Küchentisch ist umgeworfen, der Boden voller Scherben, der Teppich klebt. Der Kühlschrank ist offen, dunkel, still. Der Lichtschalter geht nicht. Dein Schluchzen kommt von weiter unten, wie aus der Erde selbst. Du weinst so laut, ich spüre es in mir.
Durch das vergitterte Fenster fällt fahles blaues Licht in den Keller. Der Staub tanzt wie Detriusregen in der Tiefsee. Jetzt sind wir ganz unten. Hier ist unbekanntes Terrain. Der Boden schwimmt, vor meinen Augen schwimmt es. Du kniest vor der geöffneten Tiefkühltruhe, reißt ein dunkelrosa Paket nach dem anderen heraus und wirfst es klatschend auf den Boden. Aufgetautes Fleisch, kiloweise, kaputt, nutzlos. Du raufst dir die Haare und murmelst nur noch „Scheiße, Scheiße, Scheiße", ein verzweifeltes Mantra.
„Von wem hast du das?"
Es klopft an der Haustür, wir ignorieren es.
„Ärztliche Schweigepflicht. Das sind... ", aber ich hebe die Hand. Du musst mir nicht erklären, was das ist oder wer da eingefroren wurde. Stocksteif stehen sie da, die Augen braun und wachsam, die Nüstern feucht unter den letzten Fichten. Die Rehe. Der Wald. Und plötzlich bin ich es, die auf ihre Füße schaut, für Gott-weißwie-lang.
Es klopft wieder an der Haustür, lauter, deutlicher, so, dass man es nicht mehr ignorieren kann. Da steht die Nachbarin in einer dicken Jacke über der Kittelschürze, mit Holzschuhen und einem aufmerksamen Blick.
„Eure Eierlieferung." Sie hält mir einen abgeschlagenen Karton hin und späht an mir vorbei in unser Vorzimmer. „Sind frisch, noch ganz wann."
„Danke. So ein Service. Um diese Uhrzeit", sage ich, vielleicht etwas zu fröhlich.
„War ja nicht zu überhören, dass ihr schon auf seid." Sie senkt die Stimme und sieht mich an: „Alles in Ordnung?"
Ich nicke. „Bis auf den Strom halt."
„Der kommt schon wieder. Du, wegen der Eier... ", sagt sie und ich will sie ihr aus der Hand nehmen, aber sie lässt sie nicht los.
,Gegen was tauschst du?"
Ich zögere, räuspere mich: „Wild. Wild hätte ich."
„Ach komm, Wild haben wir alle genug", sagt die Nachbarin und schüttelt den
Kopf. Ihre Schritte klackern über die Steinplatten, erst in unserem, dann in ihrem Vorgarten. Dann wieder Stille im Ort. Der Himmel ist rosa, die Berge leuchten. Über dem See hängt der Nebel. Ein Schwarm Krähen fliegt von einer nahen Birke zum Wasser. Als es wieder knallt, einer der Vögel erst erstarrt und dann, wie in Zeitlupe, zu Boden fällt, zucke ich nicht zusammen. Am See bellt irgendwo ein Hund und du rufst meinen Namen.